12. Juni 2023
Aachener Radhändler bauen Werkstätten aus
Nach dem Corona-Fahrradboom stellen sich Händler neu auf. Dabei rücken fehlende Werkstatt-Kapazitäten besonders in den Fokus.
Unterm Strich bleibt nichts
– oder wenig. Fahrradwerkstätten
sind keine Goldgrube. Im Gegenteil.
Sie arbeiten personalintensiv, rauben Händlern Verkaufsfläche, erfordern
ein komplexes Management.
Bei manchen Fahrradgeschäften
in Aachen warten Kundinnen und
Kunden Wochen, manchmal Monate,
auf einen Reparatur- oder
Servicetermin für ihr Bike – ob nun
mit oder ohne Elektroantrieb. Wie
stellen sich erfahrene Händler jetzt
nach dem coronabedingten Zweirad-Boom zum Saisonbeginn 2023
auf? Zwei versierte Aachener Traditionsbetriebe
erlauben einen Blick
hinter die Kulissen des Geschäfts
mit dem Rad – Flizz Eurobike, Am
Gut Wolf 9, und Velo, Karlsgraben
69, mit Werkstatt am Lindenplatz.
Dabei rechnet sich – noch – nicht
alles...
Flizz-Mitinhaber Alexander Ludwigs
(66) ist seit 42 Jahren im Geschäft;
Velo-Gründer Christoph Gier
(60) seit 30 Jahren, und seit Anfang
2023 verstärkt durch den Geschäftsführer
Pitt Wagner (37).
„Wir bräuchten eigentlich 1000
Quadratmeter Werkstattfläche“,
sagt Ludwigs. „Aber es gelingt uns,
nachdem wir uns hier vor den Toren
der Innenstadt mit unserer kompletten
Werkstatt-Logistik auf rund
500 Quadratmetern – neben 3900
Quadratmetern gesamter Betriebsfläche
– neu aufgestellt haben, unsere
Kundschaft optimal und ohne
lange Wartezeiten zu versorgen“,
erklärt er. Selbst in der Hochsaison,
die jetzt mit dem Frühling im März
beginnt, soll die Werkstatt-Wartezeit
für Reparaturen zwei Wochen nicht
überschreiten.
Von seinen 65 Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern – inklusive acht
Azubis – arbeiten 30 in der Werkstatt.
Tendenz steigend. Rund 9000
Reparaturen und Inspektionen
bewältigt das Team pro Jahr an
mittlerweile zwölf hochmodernen
Werkstattarbeitsplätzen. Überall
flimmern Computerterminals, stehen
Rad-Hebebühnen, daneben etliche
Tausend Teile Spezialwerkzeug
und Ersatzteile.
„Natürlich ist der Verkauf von Rädern,
E-Bikes und Zubehör die Basis
des Geschäftes, was den Ertrag angeht.
Sich aber nur auf die Rosinen
zu konzentrieren, entspricht nicht
unserer Unternehmens-Philosophie.
Wir möchten durchgehend
– auch nach dem Verkauf eines
Fahrrads oder E-Bikes unserer 13
Top-Hersteller – Partner und Problemlöser
unserer Kundinnen und
Kunden sein. Auch wenn das Werkstattgeschäft
deutlich mehr Arbeit
und Kosten verursacht“, sagt Ludwigs;
buchhalterisch eine „Nullnummer“
in der Gewinn-Verlust-Rechnung. Selbstverständlich ist das
nicht. Selbst namhafte und große
Händler von Rädern höherer Preisklassen
kommen anderswo kaum
über zwei oder vier Werkstattplätze
hinaus. Wenn überhaupt. Manche
bleiben fast ausschließlich Online-
Händler. Da ist der Geschäftsfokus
offensichtlich.
Weit über die Kapazitäten hinaus
„Wir sehen unsere Aufgabe in der
Versorgung Aachens mit Fahrrädern
und E-Bikes sowie in den damit verbundenen
Dienstleistungen. Das ist
in den letzten Jahren durch die enorme
Entwicklung der Branche eine
riesige Herausforderung geworden,
der wir uns gerne stellen. Die Rolle,
die heute Räder und E-Bikes in der
Mobilität und Freizeitgestaltung
spielen, hätten wir uns vor 42 Jahren
nicht erträumt“, sagt Ludwigs.
Das gehe weit über die in Aachen
sicher noch nicht flächendeckend
ausreichenden Werkstattkapazitäten
hinaus.
„Mit den unglaublichen Innovationen
und Entwicklungen der
letzten Jahre hat sich die Branche
sehr gewandelt.“ Dies gelte für die
erforderlichen Fachkenntnisse der Fahrrad-Mechatroniker genauso
wie für die Experten im Team, die
sich mit mittlerweile zehn Leasinganbietern,
Versicherungsthemen
und Gewährleistungsabrechnungen
etc. beschäftigen. „Es reicht heute
nicht mehr, samstags zum Großkampftag
ein großes Verkaufsteam
am Start zu haben. Das gesamte
Paket muss stimmen, auch in den
weniger gewinnbringenden Geschäftsbereichen“,
stellt der Flizz-
Chef fest. „Wir sind mehr Dienstleister
als Händler.“
Kurze Lieferzeiten sind wichtig
Tausende Neufahrräder sind bei ihm in drei Etagen oberhalb von Verkaufshalle und Werkstatt eingelagert, um zum Saisonstart leistungsfähig zu sein. Sie wurden gerade in den Wintermonaten montiert. Neben dem unternehmenseigenen Webshop legt Ludwigs – seit einiger Zeit gemeinsam in der Geschäftsführung mit Jonas Scholz – gerade auch beim Neufahrradverkauf Wert darauf, dass es kaum Lieferzeiten gibt. „In der Regel will der Kunde sein Bike sofort mitnehmen“, sagt er. Auch das kostet Montage-Kapazitäten. Zumal – das beobachten Ludwigs und andere Branchenkenner genau – in jüngster Zeit sogar Autohersteller und -händler wie Volkswagen „aggressiv in den Fahrradmarkt eingreifen und selbst zum Fahrradverkäufer werden“, wie der Flizz-Boss bemerkt. Verkehrte Welt. Die Velo-Chefs Gier und Wagner agieren mitten im Herzen der Aachener Innenstadt. Man zählt 26 feste Mitarbeiter, über die Hälfte davon in der Werkstatt. Die ist – unweit des Firmensitzes an der Ecke Templergraben/Königsstraße – inzwischen am Lindenplatz beheimatet. Die Erweiterung der Werkstatt mit dem Umzug an einen eigenen Standort war die größte Investition der Firmengeschichte. Es geht um Kundennähe mitten in der Innenstadt, problemlos per Rad und zu Fuß erreichbar.
Dass es Velo mit der Versorgung der Menschen in der Innenstadt ernst meint, zeigt sich deutlich bei der Größe von Verkauf zu Werkstatt: „Wir sind nun so aufgestellt, dass wir über 450 Quadratmeter Werkstattfläche und etwa 200 Quadratmeter Verkaufsfläche am Karlsgraben verfügen“, erklärt Gier.„In der Corona-Zeit sind ja alle Dämme gebrochen; die Verkaufszahlen schossen in die Höhe. Um unsere hohe Servicequalität zu halten und auszubauen, haben wir Ende 2020 entschieden, unsere Werkstattkapazitäten deutlich auszuweiten.“ Und dazu gehöre zwingend eine leistungsfähige Werkstatt, hier mit acht hochmodernen Arbeitsplätzen für die Mechatroniker; natürlich Lastenradtauglich – ein Schwerpunkt von Velo. Alle ausgestattet mit Computern und elektrischen Hebebühnen auch für Lastenräder mit bis zu 60 Kilogramm Gewicht.
Besonderer Service: Die Kunden können schon seit einiger Zeit über ein Onlinetool, das gerade nochmal überarbeitet wird, Termine bequem von zu Hause oder übers Smartphone buchen. „Wartezeiten von mehreren Monaten sind einfach nicht akzeptabel, auch nicht in der Hochsaison“, erklärt Wagner. Auch Velo strebt höchstens 14 Tage an, bietet Sofortreparaturen für kleine, dringende Fälle an und kann in der Regel auch kurzfristiger Termine für Notfälle anbieten. „Es kommt sehr darauf an, was an dem Rad gemacht werden muss. Ein platter Reifen ist ein Notfall – und hat eine hohe Dringlichkeit. Darüber hinaus ist es auch schneller erledigt als die Komplett-Inspektion eines Lastenpedelecs“, sagt der Geschäftsführer. Die Arbeitsweise steht modernen Autowerkstätten nicht nach. Früher durfte jeder an Fahrrädern – auch privat – herumschrauben. Moderne Pedelecs sind komplexe Fahrzeuge, an die nur zertifizierte Fachleute Hand anlegen sollten. Fehler – etwa am Motor oder dem Akku – werden per Computer ausgelesen, Programmierung gegört zum Berufsbild des Zweirad-Mechatronikers genauso wie das Schrauben. „Wir freuen uns sehr, dass wir nun endlich wieder zwei Mechatroniker ausbilden können aufgrund der Ausweitung unserer Werkstatt“, sagt er. Der Anspruch endet nicht damit, höchsten Qualitätsansprüchen bei Reparaturen gerecht zu werden. „Wir wollen unseren Kunden ermöglichen, nicht auf andere Verkehrsmittel ausweichen zu müssen. So halten wir eine Flotte von 35 Servicerädern mit und ohne Antrieb vor, die unseren Werkstattkunden bisher kostenfrei für die Dauer ihrer Reparatur zur Verfügung gestellt werden“, schildert Gier. „Grundsätzlich spielt es dabei zunächst einmal nur eine untergeordnete Rolle, dass unsere Werkstatt keinen Gewinn abwirft“, betont der Velo-Chef. „Für uns zählt das Gesamtpaket und die optimale Betreuung unserer Kunden.“ Dazu gehöre eine bedarfsorientierte Vorauswahl an Fahrrädern und eine fachgerechte Beratung vor Ort, Leasingangebote und Versicherungsleistungen. „Besonders beliebt sind zurzeit Lasten-Pedelecs, besonders für den Kindertransport und den täglichen Einkauf, aber auch schicke, leichte Urban E-Bikes, Trekking und E-Bikes sowie ebenso klassische Trekkingräder ohne Motor und Gravelbikes“, zählt Wagner auf.
Gemeinsames Ziel: Verkehrswende
Velo-Chef Gier wird – trotz der Flächenproblematik – den Standort am Rande der Altstadt halten. „Ich bin totaler Innenstadt-Fan, ich liebe den Einzelhandel vor Ort. Wir wollen dazu beitragen, ein Teil einer lebenswerten lebendigen Innenstadt zu sein“, sagt er Gier, Wagner und Ludwigs – Velo und Flizz Eurobike – verstehen sich übrigens nicht als Konkurrenz. Unterm Strich zähle das Ziel: die Verkehrswende. Und die rechne sich letztlich in jedem Fall für alle.
FOTOS: ROBERT ESSER
Original-Artikel aus der Aachener Zeitung